Was heißt eigentlich „systemisch“?
Blickt man auf die Häufigkeit und Selbstverständlichkeit mit der der Begriff „systemisch“ heute im Coachings- und Beratungskontext verwendet wird, könnte man zu dem Schluss kommen: Systemisch zu arbeiten ist Alltag geworden, es ist eine Art Standard. Doch was ist mit dem Begriff eigentlich genau gemeint? Und was bedeutet es, wenn jemand behauptet, systemisch zu arbeiten?
„Systemisch“ ist einer dieser Begriffe, der sich einst unter inhaltlichen Gesichtspunkten seinen Platz erobert hat und jetzt in vielen Fällen nur noch als wohlklingendes Anhängsel mitläuft. Gerade deshalb ist die Frage aus unserer Sicht berechtigt und wichtig. Wir wollen in diesem Artikel keine umfassende Abhandlung liefern. Vielmehr geht es darum, zu erläutern, was wir unter „systemisch“ verstehen und vor allem, inwieweit die systemische Grundhaltung unser Denken und Handeln im Arbeitsalltag prägt.
Was ist eigentlich ein „System“?
Man kann mit Willke ein System verstehen als „ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen, deren Beziehung untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen konstituiert eine Systemgrenze, die Systeme und Umwelt des Systems trennt“ (Willke 1993, S. 282). In dieser Definition wird deutlich: Es geht bei Systemen um die Betrachtung von Beziehungsgefügen und es geht um eine Trennung von System und Umwelt. Weil diese Trennung von „innerhalb“ und „außerhalb“ des Systems immer subjektiv ist, d.h. vom Beobachter selbst abhängt, ist der Beobachter notwendigerweise Teil des Systems.
Zur Erhellung des Begriffs lohnt sich ein – sehr kurzer – Blick in den geschichtlichen Entstehungshintergrund. Erstmalig einen gezielt systemischen Ansatz verfolgte der Biologe Ludwig van Bertalanffy Mitte des letzten Jahrhunderts, indem er die Gesetzmäßigkeiten von (biologischen) Systemen untersuchte. Die Prinzipien von Rückkopplung, Selbstorganisation und Gleichgewicht wurden zu den Grundsteinen der technischen Steuerungslehre, die unter dem Begriff „Kybernetik“ bekannt wurde. Die Ideen der Kybernetik hatten einen weitreichenden Einfluss auf viele andere (Wissenschafts-)Bereiche und bereiteten den Boden für die ersten systemisch ausgerichteten Therapie-Ansätze des Mental Research Institutes, der strukturellen und strategischen Familientherapie und auch der Mailänder Schule in den 60er und 70er Jahren. Für die weitere Entwicklung von Therapie, Beratung und das heutige Verständnis von „systemisch“ war vor allem die Erweiterung der Kybernetik um erkenntnistheoretische Überlegungen entscheidend. Die zuerst durch Ernst von Glaserfeld und Heinz von Förster im radikalen Konstruktivismus formulierte Annahme, dass die Realität eine Konstruktionsleistung des Gedächtnisses ist, dass also jede Wahrnehmung subjektiv interpretiert wird und es keine objektive Wirklichkeit gibt, sorgte für ein Umdenken und Umwälzen bestehender beraterischer Ansätze. Diese „konstruktivistische Wende“ ergänzte die Kybernetik erster Ordnung, also die Theorien über beobachtete Systeme, mit Theorien über die Beobachter eines Systems: Während in der Kybernetik erster Ordnung die Beobachtung eines Systems im Vordergrund steht und sich an diese Beobachtung eine als hilfreich und wirkungsvoll angenommene Intervention anschließt, steht in der Kybernetik zweiter Ordnung die Wirklichkeitskonstruktion an sich im Fokus. Und zwar – gleichermaßen – die des Beraters und die des Gegenübers.
Zumindest erwähnt werden muss hier auch noch Niklas Luhmann, der in seiner ganzheitlichen soziologischen Systemtheorie die Wirkungsweisen von Systemen auf die Gesellschaft übertrug. Luhmann war es auch, der in seiner differenzierten Betrachtung von Teil-Systemen den systemischen Gedanken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen lancierte und damit die systemischen Grundsätze und Prinzipien endgültig etablierte. In Zusammenfassung dieser Hintergründe lässt sich eines in der Rückschau feststellen: Die systemischen Ideen konnten in der Organisations- und Beratungswelt sehr gut andocken und flossen in viele organisationale und beraterische Konzepte mit ein.
Was heißt dann „systemisch“?
Vor diesem Hintergrund lässt sich nun zusammenfassen, was mit „systemisch“ in der Praxis gemeint ist. Aus unserer Sicht sind es vor allem drei Aspekte, die hinter dem Begriff stecken.
1. Der wirklichkeitskonstruktivistische Aspekt
Im Systemischen gibt es das geflügelte Wort „Die Landkarte ist nicht die Landschaft“. Wir machen uns ein Bild der Landschaft und gehen davon aus, dass die dabei entstehende gedankliche Landkarte ein Abbild der Wirklichkeit ist. Doch das ist ein Trugschluss. Vielmehr ist die Landkarte ebenso individuell, wie jede Person. Sicherlich, wo – um im Bild zu bleiben – im Gelände ein Berg auftaucht, wird kaum ein Mensch einen Fluss sehen; doch ob diese Erhebung steil ansteigt oder flacher, ob sie viel oder wenig Vegetation aufweist und vor allem, ob sie passierbar erscheint oder nicht – all das ist abhängig von der subjektiven Interpretation jedes Einzelnen. Und diese Interpretation wiederum ist Resultat persönlicher Erfahrungen, Eigenschaften, Fähigkeiten und Werten. Nimmt man den systemischen Gedanken ernst, dann bedeutet das, Respekt vor der Wirklichkeitskonstruktion meines Gegenübers zu haben. Und es bedeutet gleichzeitig auch, das eigene Wirklichkeitsverständnis nicht als Maß aller Dinge, sondern Ausgangspunkt einer gemeinsamen Verständigung anzusehen. Will man als Coach oder Berater gute Arbeit leisten, muss demnach der aufrichtige und empathische Versuch am Anfang stehen, die Menschen und ihre Wirklichkeits-Sicht verstehen zu wollen.
2. Der Beziehungs- und Vernetzungs-Aspekt
Um die Menschen wirklich verstehen zu können, bedarf es aber nicht nur eines Blicks auf sie selbst, sondern auch auf die sozialen Systeme, in denen sie sich bewegen. Ob das die Familie, eine Organisation oder andere gesellschaftliche Teil-Systeme sind. Immer geht es dabei um Beziehungen, wechselseitige Abhängigkeiten und zirkuläre Zusammenhänge. Als Menschen bewegen wir uns nicht isoliert von der Umwelt, sondern treten immer wieder in Beziehung zu anderen. Somit kann menschliches Verhalten auch erst unter Einbezug des jeweiligen Kontexts verstanden werden. Die Kommunikation spielt hier als Medium, mit dem wir in Beziehung, treten die zentrale Rolle. Wenn wir der „Kultur“ in Organisationen eine wichtige Bedeutung beimessen, dann deshalb, weil sie gleichermaßen Ergebnis, wie Ausgangspunkt kommunikativer Prozesse ist. Kultur bildet als kristallisierte Kommunikation zentrale Leitplanken eines Systems. Damit sagt die Kultur viel über die Art und Logik eines Systems aus und liefert Anknüpfungspunkte für nachhaltige (Veränderungs-)Impulse.
3. Der lösungsorientierte Aspekt
Da die Komplexität in sozialen Systemen sehr groß ist, kommen Erklärungen über einfache Ursache-Wirkungs-Prinzipien ebenso an ihre Grenzen, wie der Versuch, Lösungen, die bei einer Person oder Organisation funktioniert haben, eins zu eins auf andere zu übertragen. Lösungsfindung unter der systemischen Perspektive bedeutet zunächst immer ein Andocken an der Wirklichkeit der Kunden in ihrem speziellen Kontext. Im Zuge der konstruktivistischen Wende wurden zwei Dinge immer deutlicher: Zum einen liegt in der Betrachtung unserer Art und Weise, wie wir Wirklichkeit konstruieren auch ein zentraler Schlüssel für die Entwicklung von Problemen und Lösungen. Zum anderen wurde immer mehr in Frage gestellt, ob die Interventionen der Berater überhaupt eine plan- und steuerbare Wirkung haben können, wenn davon ausgegangen werden muss, dass Berater und Klient ein unterschiedliches Wirklichkeitsverständnis haben; „Lösungen“, die für den Berater schlüssig und sinnvoll sind, müssen es im System des Klienten oder der Organisation nicht unbedingt sein. Dadurch hat sich auch das Rollenverständnis von Beratern geändert: Vom sachkundigen Ratgeber und Lösungsproduzent zum empathischen Unterstützer und Impulsgeber auf dem Weg der Lösungsfindung. Systemische Berater vertrauen darauf, dass die ‚Lösung‘ immer bereits im System, d.h. im Klienten oder in der Organisation, liegt. Es geht darum, die Kunden in ihrer Selbststeuerung zu unterstützen, statt sie von externen Experten abhängig zu machen. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass der Berater nicht auch in der Sache kompetent sein muss. Aber unter systemischen Gesichtspunkten muss zur Fachlichkeit immer auch ein tiefes Verständnis für die systemischen Zusammenhänge des jeweiligen Kontextes hinzukommen. Erst auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses der Situation können passende Lösungen gefunden werden.
Was bedeutet der systemische Blick für unsere Arbeit?
Es ist an verschiedenen Stellen bereits angeklungen: Der systemische Ansatz beschreibt in erster Linie eine Grundhaltung. Im Kontrast zu Tool-lastigen Konzepten, impliziert systemisches Arbeiten ein bestimmtes Menschenbild und eine Weltsicht, die geprägt sind durch die oben beschriebenen Prinzipien. Sie resultiert in dem beschriebenen Rollenverständnis und bringt eine Herangehensweise mit sich, bei der nicht eine bestimmte Methode oder normative Sichtweise, sondern das Verstehen der Kunden in ihren systemischen Zusammenhängen den Ausgangspunkt bildet. Dadurch wird die Auswahl von passenden Methoden bzw. Interventionen, sowie ihre stimmige Einführung im jeweiligen System maßgeblich erleichtert.
Die systemische Haltung prägt unser Denken und Handeln. Sie ist tief verwurzelt in unserem professionellen Selbstverständnis und bestimmt, wie wir (organisationale) „Probleme“ interpretieren, Lösungen finden und Veränderungen mitgestalten. Diese Haltung ist Voraussetzung, uns immer wieder auf neue und verschiedene Umstände und Kontexte einzustellen und stimmige, d.h. situativ angemessene, Impulse anzubieten. Insofern ist systemisches Arbeiten für uns tatsächlich Alltag – nicht als inhaltsleere Hülle, sondern als gelebte Überzeugung.
Im Artikel zur Coaching-Haltung bei Oliver König werden die hier noch eher abstrakt beschriebenen Ideen in ihrer konkreten Umsetzung deutlich.
Willke, H. (1993): Systemtheorie (4. Auflage). Stuttgart: G. Fischer.
22. Juni 2018