Ambidextrie – oder die Kunst beidhändig zu denken
„Ambi…was?“ Das war meine erste Reaktion auf diesen Fachbegriff. Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich, vor allem falls Sie kein Latein hatten.
Die Lateiner könnten sich vielleicht an dexter („rechts“, aber auch „geschickt“, „gewandt“) und ambi („von beiden Seiten“, „ringsum“) erinnern. In direkter Übersetzung heißt Ambidextrie also „von beiden Seiten geschickt“. Und in der Bedeutung übersetzt ist es die Fähigkeit, beidhändig zu agieren.
Haben Sie schon mal versucht beidhändig zu agieren? Klar, unsere beiden Hände sind ständig dabei gemeinsam zu handeln. Aber in unterschiedlichen Kontexten, funktioniert es dann auch?
Beim Malen wird es einem sehr deutlich bewusst. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und malen Sie mit:
- Zuerst malen Sie mit beiden Händen zwei Striche. Einen von links nach rechts und einen von rechts nach links.
- Als nächstes malen Sie mit der einen Hand, wie beim ersten Versuch einen Strich, den sie immer dicker malen – von links nach rechts und zurück. Gleichzeitig malen sie mit der anderen Hand einen Kreis, danach ein Rechteck und dann ein Quadrat. Bleiben Sie mit der ersten Hand beim Strichmalen, während die zweite Hand die Form beim Malen variiert.
- In der dritten Variante malt die eine Hand weiterhin den Strich und bleibt so genau wie möglich auf der Linie (jede Abweichung kostet Geld!) und die andere Hand malt zuerst ein Haus, dann einen Baum und erfindet ein Auto mit faltbarer Garage und Flugfunktion. . Und bleiben sie auf der Linie!
Übung durchgeführt?
Spüren Sie nach, was Ihnen dabei leicht fiel und was in ihrem Denken und Handeln während des Zeichnens passiert ist.
Verschiedene Ausprägungen von Organisationen
So ähnlich fühlt es sich an, wenn man Innovation und Produktion nebeneinander betreibt. Und das ist gar nicht so trivial. Wir Menschen sind nicht darauf ausgelegt, unterschiedliche Tätigkeiten gleichzeitig zu betreiben. Unser Denken springt und unser Geist kann sich nur auf eine Sache so richtig fokussieren. Auch werden eigene Präferenzen aktiviert: Lieber erfinden und kreativ sein oder lieber eine Sache sauber durchziehen?
Das Modell der Ambidextrie beschreibt mit seinen zwei Achsen „Strukturelle Ambidextrie: stabil – agil“ und „Kontextuelle Ambidextrie: Umsetzer – Musterbrecher“ vier Felder von Organisationsausprägungen. Es gibt die stabilen Umsetzer (Run) und die agilen Musterbrecher (Innovate). Außerdem die agilen Umsetzer (Adapt) und die stabilen Musterbrecher (Disrupt). Alle Quadranten haben ihre Berechtigung und können je nach Situation eine sinnvolle Anwendung finden.
Wozu überhaupt die Diskussion über unterschiedliche Vorgehensweisen? Durch die Digitalisierung nimmt die Geschwindigkeit von Innovationen zu. So bleibt vielen Unternehmen durch den hohen Marktdruck nichts anderes übrig, als ihr Geschäftsmodell in immer kürzerer Zeit zu hinterfragen. Vor allem traditionelle und etablierte Unternehmen sind gefordert, ihre Produkte zu prüfen und neue Geschäftsfelder zu besetzen, um am Markt etabliert zu bleiben (Innovate). Und junge innovative Unternehmen, die im Zuge der Digitalisierung entstehen, stehen vor der Hürde Profitabilität und Marge zu erreichen, sobald Sie Produkte etabliert haben (Run). Konzerne, die beides nebeneinander betreiben und mit vielen Produkten und parallelen Markttests unterwegs sind, brauchen eine stabile Dynamik im Zusammenspiel (Run and Innovate). Dies neben dem Alltagsgeschäft und den eingespielten Gewohnheiten im Unternehmen zu etablieren und darüber in der Geschäftsführung im Dialog zu sein, ist oft herausfordern. Vor allem, weil die Balance der Themen nicht mit entweder-oder entschieden werden kann. Kommt dann noch bei den Führungskräften die Identifikation mit ihren zu verantwortenden Bereich(en) hinzu, tauchen auch schnell Konflikte auf.
In einem Strategiekreis, den ich in einem Strategieentwicklungsprozess begleiten durfte, tauchte diese Diskussion im Entscheidungsprozess zu neuen strategischen Zielen auf. Die Leiterin Export stritt sich mit dem kaufmännischen Geschäftsführer, der für die Produktion verantwortlich ist. Welchen Schwerpunkt sollte der Export in den nächsten Jahren bekommen? Wie lange im Voraus muss der Export Produktänderungen und Lieferwünsche an das Produktmanagement und die Produktion melden? Darf der Export auch mal schnell auf Lagerbestände zugreifen, die eigentlich als Reserve gehalten werden? Wie viel Flexibilität kann die Produktion leisten und wann wird aus vielen kleinen Anpassung oder kurzfristigen Anfragen eine zu große Störgröße?
Eine spannende Situation, die sicherlich auch in anderen Organisationen so auftritt.
Was heißt das für das Management von Organisationen und Berater?
Aus meiner Sicht ist entscheidend, inwieweit es das Management-Team schafft, beide Perspektiven gemeinsam auf Top-Ebene zu denken. Inwieweit das Management gewohnt ist, in Widersprüchen zu denken. Und inwieweit es dem Management gelingt, innerhalb der Organisation die Bereiche mit Innovations-Schwerpunkt von den Run-Bereichen zu trennen und fokussiertes Erfinden und Produzieren stattfinden zu lassen.
Wie sieht es in Ihrer Organisation aus:
- Sind die Bereiche klar getrennt und fokussiert?
- Wie betreibt das Top-Management die Integration von Run und Innovate im Management-Team? Innerhalb der Organisation? Und nach außen zu Kunden und Stakeholdern?
- Wie sind die unterschiedlichen Foki strategisch verankert und in welchen Zyklen wird reflektiert, gelernt, feinjustiert?
- Welche Dynamik ist zwischen den Foki auf den unterschiedlichen Ebenen erkennbar?
- Gibt es Vorboten oder Frühwarnsysteme, wenn die Balance kippt?
- Wie kommen Ausgleichs-Kräfte ins Spiel? Von wem? Und wie lange?
Für Berater sind auch die Fragen interessant:
- Wie lässt sich Ambidextrie in Unternehmen beobachten?
- Wie lässt sich das Modell für unterschiedliche Aufträge und Prozesse einsetzen?
- Wer könnte von dem Modell in Organisationen profitieren und einen Mehrwert haben?
- Welche Grenzen hat das Modell und wann verfehlt es seinen Zweck?
Zu diesen Fragen und zum Modell der Ambidextrie wird es am 22. September 2018 beim isb Symposium in Hamburg einen Workshop mit Oliver König geben. Die Agenda des Symposiums finden Sie hier.
Ich freue mich auf das Denken und Reflektieren mit Kolleginnen und Kollegen zu diesem spannenden Modell und den dahinter liegenden Fragen!
20. Juli 2018
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Bisher 2 Kommentare:
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Lieber Oliver,
danke Dir für den gut aufbereiteten Artikel. Ich bin über das Thema der „klaren Trennung“ der Bereiche gestolpert. Ich weiß, dass deutsche Firmen das v.a. so handhaben und es gibt viele Beispiele, wo in einem Bereich beides zusammen nicht gut geht. Und ich frage mich genauso wie bei agilen und klassischen Bereichen, ob die Integration der Perspektiven allein beim Top-Management richtig angesiedelt ist. Ich freue mich immer über Beispiele von gelungener Integration (wenn auch nur in Teilen).
Bin gespannt auf Deinen Workshop. Wir sehen uns dort.
Herzlichen Gruß Jaakko Johannsen
Lieber Jaakko,
vielen Dank für deine Anregung!
Gerne auch Integration auf anderen Ebenen, als dem Top-Management. Was ich oft erlebe ist, dass die unteren Ebenen häufig spiegeln, was und wie im oberen Management gedacht wird. Deshalb mein Ansatz auf der oberen Ebene.
Und mir laufen auch meist die getrennten Bereiche über den Weg. Vielleicht wirklich ein deutsches Phänomen?
Siehst Du Beispiele im nicht-deutschen Raum? Und ich bin gespannt auf deine Beispiele gelungener Integration.
Ich freue auf den Austausch mit Dir!
Herzlich, Oliver